Candide No. 9 — 6/2015 — Analyse

Gregor Harbusch
Die Waldschratschule in der Industriehalle
Ludwig Leos Vorentwurf für Hartmut von Hentigs Laborschule Bielefeld 1971

Am Stadtrand von Bielefeld, direkt neben dem riesigen Gebäudekomplex der Universität, liegt ein unauffälliger, dunkelroter Flachbau mit Sheddach. Was von außen an eine Fertigungshalle erinnert, beherbergt im Inneren eines der wichtigsten Experimente der deutschen Reformpädagogik in den 1960er- und 1970er-Jahren: die Laborschule und das Oberstufenkolleg des Reformpäda­gogen Hartmut von Hentig. Das Gebäude ist einerseits ein Kind seiner Zeit, anderseits deren herausragende Ausnahme. Schulreformen, Gesamtschulkon­zepte, flexible Systembau- und Großraumlösungen sowie radikale Unterrichts­experimente wurden damals als Mittel progressiver Gesellschaftsreformen begriffen und in schneller Folge diskutiert, umgesetzt und erprobt. In diesem aufgeladenen Spannungsfeld zwischen Architekturdebatte und Bildungspoli­tik entwarf der Berliner Architekt Ludwig Leo ein ambitioniertes Haus für die von Hentig konzipierte „entschulte Schule“. Sein Projekt macht deutlich, wie Leo die technischen Bedingungen und Möglichkeiten der Architektur als Mit­tel eines emanzipatorischen Programms zu deuten und einzusetzen versuchte. Leo stieg während der Planung im Streit aus dem Projekt aus, und sein Ent­wurf blieb unrealisiert, bildete aber dennoch die Grundlage für die schließlich durch das Berliner Planungskollektiv Nr. 1 gebaute und heute noch erfolgreich genutzte Schule.

Candide No. 9, 6/2015