Die Waldschratschule in der Industriehalle

Am Stadtrand von Bielefeld, direkt neben dem riesigen Gebäudekomplex der Universität, liegt ein unauffälliger, dunkelroter Flachbau mit Sheddach. Was von außen an eine Fertigungshalle erinnert, beherbergt im Inneren eines der wichtigsten Experimente der deutschen Reformpädagogik in den 1960er- und 1970er-Jahren: die Laborschule und das Oberstufenkolleg des Reformpäda­gogen Hartmut von Hentig. Das Gebäude ist einerseits ein Kind seiner Zeit, anderseits deren herausragende Ausnahme. Schulreformen, Gesamtschulkon­zepte, flexible Systembau- und Großraumlösungen sowie radikale Unterrichts­experimente wurden damals als Mittel progressiver Gesellschaftsreformen begriffen und in schneller Folge diskutiert, umgesetzt und erprobt. In diesem aufgeladenen Spannungsfeld zwischen Architekturdebatte und Bildungspoli­tik entwarf der Berliner Architekt Ludwig Leo ein ambitioniertes Haus für die von Hentig konzipierte „entschulte Schule“. Sein Projekt macht deutlich, wie Leo die technischen Bedingungen und Möglichkeiten der Architektur als Mit­tel eines emanzipatorischen Programms zu deuten und einzusetzen versuchte. Leo stieg während der Planung im Streit aus dem Projekt aus, und sein Ent­wurf blieb unrealisiert, bildete aber dennoch die Grundlage für die schließlich durch das Berliner Planungskollektiv Nr. 1 gebaute und heute noch erfolgreich genutzte Schule.

Verbildlichung, Verkörperung, Übertragung. Anmerkungen zur ethnografischen Repräsentation in der Architektur

Im Laufe des 20. Jahrhunderts hat sich unter modernen Architekten und Architektinnen eine empirische Forschung herausgebildet, die Mitte des Jahr­hunderts noch als quasi-ethnografisch, unterdessen jedoch aufgrund der fortschreitenden Verwissenschaftlichung als ethnografisch bezeichnet wer­den kann. Sascha Roesler unterscheidet in diesem Beitrag drei Formen der architektur-ethnografischen Repräsentation und plädiert dafür, den episte­mologischen Besonderheiten dieser Forschung Rechnung zu tragen. Entgegen der landläufigen Vorstellung, die ethnografische Forschung der Architektur erschöpfe sich in Bauaufnahmen, wird ein Repräsentationsmodell zur Geltung gebracht, welches Bauten als kulturelle „Aufschreibesysteme“ miteinbezieht. Entlang dreier Forschungsarbeiten — von Dorothy Pelzer, Trevor Marchand und Hassan Fathy — sei dieses Repräsentationsmodell beispielhaft dargestellt.

Effizienz im kapitalistischen Wohnungsbau der Schweiz.

Dieser Beitrag untersucht die gegenseitige Einflussnahme von Stadtentwicklungspolitik, Bauwirtschaft und Architekturdiskurs in der Produktion von Großwohnsiedlungen in der Schweiz. Gegenstand ist die Entwicklung der Normierungsbestrebungen der Ernst Göhner AG im Großraum Zürich von 1920 bis 1973. In dieser Zeitspanne wuchs das Unternehmen des gleichnamigen Eigentümers vom kleingewerblichen Fensterbauer zu einer der größten Schweizer Immobilienfirmen. Grundlage hierfür war eine beständige Anpassung von Produkten und Firmenstrategien an die gebotenen politischen und technischen Möglichkeiten. Allerdings begann das Unternehmen ab den 1960er-Jahren, Planungsaufgaben selbst zu steuern, um ein umfassendes Normbausystem umzusetzen. Damit leistete die Ernst Göhner AG einerseits einen wichtigen Beitrag zum Ausbau der Schweizer Agglomeration; andererseits gerieten das Unternehmen und seine Elementbauproduktion ab 1972 ins Epizentrum der gesellschaft-lichen Kritik am Bauwirtschaftsfunktionalismus und der liberalen Planungspolitik in der Schweiz.

Das McAppy-Projekt.

Der Ruf des britischen Architekten Cedric Price als radikaler Erneuerer seiner Disziplin ist nach wie vor maßgeblich durch das Fun-Palace-Projekt (ca. 1963–1965) geprägt. Aufbauend auf bislang unveröffentlichtem Archivmaterial, stellt dieser Artikel die weitere Entwicklung seines Werkes anhand des McAppy-Projektes (1973–1975) dar. Price nutzte darin Konzepte aus Systemtheorie und Kybernetik, um eine am Nutzer ausgerichtete Architektur zu entwickeln. Er interpretierte die Stadt als soziales und gebautes System, das durch die Aktivitäten seiner Bewohner, durch Artefakte und durch Technik kontinuierlich neu gestaltet wird. Ziel des McAppy-Projektes sowie vieler seiner Folgeprojekte war es, dem Menschen durch organisatorische Instrumente und räumliche Eingriffe Möglichkeiten anzubieten, seine Umgebung eigenverantwortlich zu gestalten. Damit erweiterte Price die Disziplin der Architektur um einen strukturalistischen Gestaltungsansatz, in dem er die Stadt als kulturelles Produkt betrachtete, das aus den Beziehungen zwischen technischen Artefakten und Bewohnern entsteht.

Von der lesbaren Form zum erinnerbaren Bild.

Mit der Gegenüberstellung der Positionen des Kunsthistorikers Rudolf Wittkower und des Architekturkritikers Reyner Banham markiert Claire Zimmerman einen Wandel innerhalb des Wissensdiskurses zur Architektur in Großbritannien zwischen den frühen 1940er und den späten 1950er Jahren. Wittkowers Vorstellung einer „Lesbarkeit der Form“, entwickelt in den Jahren und in der Folge des Zweiten Weltkriegs, schrieb der Architektur eine ihr innewohnende harmonische Ordnung zu, in der die formale Organisation und die soziale Identität dermaßen miteinander verbunden seien, der Architektur einen Status wahrhaftiger Repräsentation zu verleihen. 1955 schlug Banham dann eine andere Art der architektonischen Wissenskonstitution vor. Er verwarf die „Lesbarkeit der Form“ und favorisierte dagegen die Vorstellung einer „Erinnerbarkeit als Bild“. Der Wahrheitsgehalt nahm dabei ab, dafür aber der Erinnerungswert zu. Banham wies auf diesen Wandel in der Baukultur hin und glaubte, dass der Konnex von sichtbarer Erscheinung und Form mehr und mehr durch erinnerbare Bilder ersetzt werde – durch Bilder, die zwar noch mit verschiedenen Aspekten des Gebäudes verbunden sein konnten, es aber nicht mehr zwingend sein mussten. Banhams Position vorzustellen, indem man diese mit Wittkowers Texten konfrontiert, heißt auch, sich der Postmoderne zu nähern, in der sich die Identität eines Bildes recht eigentlich dadurch konstituiert, dass es eben aussieht, wie es aussieht, und nicht dadurch, dass es meint, was es sagt. Der hier thematisierte Wandel ist dabei eng verbunden mit dem Medium Fotografie, das sich im 20. Jahrhundert in ähnlicher Weise wie die Architektur von der Wiedergabe der Form eines bestimmten Objekts zu lösen beginnt.

Der Beitrag ist begleitet von der deutschen Erstübersetzung von Banhams Essay “The New Brutalism” von 1955.

Formloser Diskurs.

In dieser Diskursanalyse betrachtet Michael Guggenheim die seit den frühen 1970er Jahren entstandenen Publikationen aus dem Bereich der Architektur, die sich mit Umnutzung von Gebäuden beschäftigen. Er zeigt auf wie diese Literatur als ganzes ihren Gegenstand verfehlt, da der Prozess der Umnutzung nicht in etablierten architektonischen Kategorien – Kategorien, die sich jeweils auf einen fixen Zustand beziehen –gefasst werden kann. Guggenheim betrachtet im Detail die Metaphern, die eingesetzt werden, um dieses theoretische Manko zu kompensieren. Er schließt daraus, dass der Architekturdiskurs eine prozessorientierte Betrachtung von Gebäuden entwickeln muss, um genauer zwischen den drei für das Verständnis der Beziehung zwischen Gesellschaft und Bauwerken relevanten Perspektiven – der technologischen, der semiotischen und der soziologischen – zu unterscheiden.

 

Familienbild mit Haus.

Im vorliegenden Aufsatz über Edvard Heiberg’s Ådalsvej-Haus in einem Vorort von Kopenhagen, 1939 für den Architekten und seine Familie entworfen, beleuchtet Robert Gassner einzelne und zum Teil miteinander verbundene Wohnsituationen. Er setzt dabei den Begriff „agency“ als analytisches Werkzeug ein, um das Haus und dessen gesamte Lebensdauer zu betrachten. Hierbei wird die Beziehung des Architekten zum Haus mit den Beziehungen verglichen, die aufeinanderfolgenden Bewohnergenerationen mit dem Haus aufgebaut haben. Dem prozesshaften Charakter des Hauses trägt Gassner Rechnung, indem er einzelne biografische Situationen beleuchtet. Diese Beobachtungen vergleicht er mit Ergebnissen anderer Forschungsfelder, bei denen „agency“ beobachtend und theoriebildend eingesetzt wird.

Begegnung mit der Liste.

Archive, Listen und Taxonomien sind zentrale Elemente der Erzählstruktur in den Schriften des französischen Schriftstellers und Filmemachers Georges Perec. Für ihn, der den Drang nach Errichtung einer räumlichen Ordnung überwindet, sind sie der Ort literarischer Erfindung. Durch die Analyse von Perecs Raumerzählungen und insbesondere den Übergang von Taxonomie zu Archiv, der seinen Werken Träume von Räumen (1974) und Das Leben. Gebrauchsanweisung (1978) innewohnt, umreißt Kulper drei Strategien, welche Architekten von Perecs Herangehensweise lernen können. Sie können erstens lernen, wie man die schöpferische Kraft der Klassifikation einsetzt, um Kategorien zu verorten. Zweitens können sie das Potenzial erschließen, das dem Akt der Namensgebung innewohnt und drittens können sie von Perec lernen, wie man aus der empirischen Beobachtung den Stoff für Figuren gewinnt.

Ut rhetorica architectura. Leon Battista Albertis architektonische Collagetechnik.

Leon Battista Alberti, der wohl innovativste Architekt der italienischen Frührenaissance, hat die Forschung von jeher deshalb fasziniert, weil in seinem Werk Theorie und Praxis eindrucksvoll ineinandergreifen. Als Architekt war Alberti Autodidakt. Ohne Vorprägung durch einen Meister oder eine Entwurfslehre liegen die Wurzeln seiner Architekturauffassung in seiner humanistisch­rhetorischen Formation. Die vorliegende Studie zeigt an einem konkreten Projekt – dem Heiliggrabtempietto in Florenz – auf, wie sich Albertis humanistische Denkweise auf seine architektonische Entwurfsmethodik auswirkt.