Inhaltlich beginnt die Ausgabe mit einer grundsätzlichen Feststellung zum Verhältnis von Kunst und Wissenschaft. Nicht ohne Interferenzen berühren und überlagern sich die Wissensfelder von Architekturtheorie und Akustik. Der Beitrag von Sabine von Fischer lädt ein zur Besichtigung einer verschlungenen Grenzlinie und lässt dabei Adolf Loos, Herman Sörgel und Siegfried Ebeling zu Wort kommen.
Auf eindrucksvolle Weise belegt der Beitrag von Tanja Herdt, dass das architektonisch-kybernetische Denken von Cedric Price nicht bei der Dynamik von Kultur-Palästen haltmacht, sondern sich bis in die Planung von Bauabläufen erstreckt und dabei die Bedürfnisse der Arbeiter mit einbezieht.
Seit Jahren werden die Sprengungen franzoÅNsischer Grosssiedlungen in explosiven Bildern festgehalten. Sandra Parvu und Alain Guez empfehlen uns einen radikalen Bilderverzicht, um die mediale Schockstarre aufzulösen. Sie komponieren aus Zeitzeugenstimmen ein nuancenreiches Nachdenken über die Wirklichkeit suburbaner Lebenswelten, deren Takte und Akkorde hellhörig machen.
Murielle Hladik begibt sich in die Gärten der Erinnerung, um jene erbaulichen und denkwürdigen GegenstaÅNnde in Augenschein zu nehmen, die das französische Künstlerpaar Anne und Patrick Poirier mit archäologischer Akribie im Laufe einer langen Schaffensperiode freigelegt und ausgestellt hat.
Die Ausgabe schliesst mit Fragen: Kann ein vorbildliches Bauwerk die Welt verändern? Welche Entwürfe und Modelle sind heute in der Lage, dem Begriff der Nachhaltigkeit Kontur zu verleihen? Andres Lepik spricht mit Anna Heringer über den politischen Gehalt partizipativ geplanter Bauten und über die einfache Schönheit ihrer Herstellung.
Der lange diskreditierte Großwohnungsbau erscheint gegenwärtig in neuem Licht. Der akute Mangel an bezahlbarem Wohnraum in europäischen und US-amerikanischen Metropolen verändert nicht nur den Blick auf abseits lie-gende Satellitenstädte und innerstädtische Sanierungsgebiete. Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Quantität und architektonische Qualität als gleichzei-tige städtebauliche Ziele diskutierbar sind, ermöglicht auch, den konzeptionellen und gestalterischen Anspruch der Großwohnungsbauten der Nachkriegszeit wieder zu entdecken. Vor allem Ende der 1960er-, Anfang der 1970er-Jahre entstanden in den Spielräumen sozialstaatlichen Engagements so unterschiedliche experimentelle Typologien wie die gezackten Labyrinthe von Jean Renaudie, die Laubengänge von Aldo Rossi oder die Blockfragmente von Richard Meier. Wie wurde aus dem fortschrittlichen Projekt der Nachkriegszeit und den Experimenten um 1970 das bis heute prägende Bild der einstürzenden Wohnblocks von Pruitt Igoe? …
Die fünf Beiträge dieser Ausgabe von Candide untersuchen die Auswirkung der Krise des Großwohnungsbaus auf Theorie und Praxis der Architektur. In der Aufarbeitung spezifischer historischer Episoden fördern sie Fragen zutage, die heute ebenso ungelöst sind wie vor vierzig Jahren. Zum Beispiel, ob und wie die Skaleneffekte der industriellen Produktion im Massenwohnungsbau zugleich städtebauliche Qualitäten bilden und ob der Großwohnungsbau Produkt eines ausbalancierten Kräfteverhältnisses von privatwirtschaftlichen Interessen und staatlicher Steuerung sein könnte. …
Eine einheitliche Sicht auf diese Umbruchzeit kann und soll aus diesen Beiträgen nicht entstehen. Die Ausgabe soll der Anstoß sein, eine Diskussion in Gang zu setzen: über die Frage des groß gedachten, bezahlbaren Wohnungsbaus als architektonische Aufgabe.
„Wer Banham zu übersetzen versucht, verdient, für Tapferkeit ausgezeichnet zu werden.“
Mit diesem Zitat des Architekten Peter Smithson schließt Reyner Banham das Vorwort zur deutschen Ausgabe seines Buches Brutalismus in der Architektur. Ethik oder Ästhetik?, das 1966, zeitgleich mit der englischen Fassung erschien. Während Banham diese Worte anführt, um seinem Verleger, seinem Herausgeber und seiner Übersetzerin zu danken, meinte Smithson damit wohl eher, dass eine Übersetzung eines so sprachlich versierten und polemischen Kritikers wie Banham zum Scheitern verurteilt ist. Immerhin wertet Smithson das Übersetzen jedoch als ein Unterfangen, für das es wert ist sich zu schlagen. Oder bezieht sich die Tapferkeit hier auf die Bewährung bei der Überwindung von kulturellen Grenzen und beim geduldigen Ausräumen von Missverständnissen?
Denn bei jeder Übersetzung geht es um eine Interpretation und die damit verbundene Deutungshoheit der Inhalte. Dabei gehen Mehrdeutigkeiten meist verloren, Sinn und Inhalt werden präzisiert, ob man das nun will oder nicht. Und jede Interpretation agiert vor dem Hintergrund ihrer Epoche, ihres lokalen und zeitlichen Kontextes.
In dieser Ausgabe stellt Claire Zimmerman das von Banham in seinem bereits 1955 erschienen Aufsatz „The New Brutalism” postulierte, interkulturelle Verhältnis von Bild und Bauwerk zu Rudolf Wittkowers Lehre in Bezug. Wir stellten wir fest, dass Banhams eben erwähnter Essay nie ins Deutsche übertragen wurde und entschieden uns, ihn übersetzen zu lassen. Nicht, weil Banham inzwischen zum Kult-Kritiker avanciert ist, sondern weil seine Gedanken in ganz unmittelbarem Verhältnis zu bildwissenschaftlichen und architekturtheoretischen Fragestellungen unserer Zeit stehen.
Smithsons Vorschlag aufgreifend, danken wir nun also Joseph Imorde für die Übersetzung von Banhams Text sowie auch für seine Übersetzung von Zimmermans Analyse. Matthias Müller danken wir für sein virtuoses Übertragen von Ian Peppers Betrachtung von Richard Serra und Robert Maillart Interessanterweise handelt die Betrachtung Peppers vom Kommentar eines Künstlers, der das Werk eines Ingenieurs liest, interpretiert und verändert. Die Frage der transatlantischen Übersetzbarkeit – diesmal von Wohnmodellen – spielt ebenso eine zentrale Rolle bei der oral history, mit der uns Kim Förster das einzige realisierte Bauwerk des legendären Institute for Architecture and Urban Studies in New York präsentiert (mit sprachlicher Unterstützung von Alta Price).
Müller danken wir sogleich noch für die Übertragung der fünf Kurzgeschichten, die die jeweiligen Gedankengänge von Philip Allin, Pedro Gadanho, Susana Oliveira, Katherine Romba und Maria Smith fassen. (Katherine Rombas Beitrag war übrigens die Anregung für diese Reihe von shorts.) Annette Wiethüchter wiederum ist dafür verantwortlich, dass die Kurzessays von Mario Carpo, Yanni Alexander Loukissas, Fabian Scheurer und Lara Schrijver gerade mit ihren Anspielungen auch in einer anderen Sprache verständlich (und unterhaltsam) bleiben.
Trotz einer mittlerweile medial gut erschlossenen Welt der Wissenschaft, wäre es übereilt, ein Wissenschaftsesperanto, eine neue Lingua franca oder andere nivellierende Standards einzufordern. Vielmehr trägt die große Vielfalt an Sprachen und ihren Kontexten ganz entscheidend zu Erkenntnisprozessen bei. Seine Autoren und Leser ermuntert Candide auch weiterhin, im Wagnis der Übersetzung die wunderbare Chance des wissenschaftlichen und interkulturellen Dialogs zu sehen.
Es ist der Gunst des Zufalls geschuldet, dass alle fünf Beiträge dieser Ausgabe auf unterschiedliche Weise die Ordnungen des Wissens thematisieren. Ihre Autoren versäumen es nicht, sich kritisch mit den Grenzen dieser Ordnungen auseinanderzusetzen. Michael Guggenheim unterzieht die Literatur zum Thema Umnutzung von Bauten einer genauen Analyse und stellt fest, dass die in der Architektur bereitstehenden typologischen Kategorien nicht geeignet sind, um die dynamischen Prozesse des Nutzungswandels sinnvoll abzubilden. Urs Füssler und Jörg Leeser schlagen vor, den Typusbegriffs um eine zeitliche Dimension zu erweitern. Der Begriff des Dramatyps hilft ihnen, den vielschichtigen Wuppertaler Baubestand zu beobachten und weiter zu entwickeln. Irénée Scalbert erinnert uns an die List des Bricoleurs, dessen erfinderisch-wildes Denken weniger durch typologische Leitbilder, als vielmehr durch den Umgang mit knappen Ressourcen stimuliert wird. Liam Ross untersucht den Einfluss schottischer Bauvorschriften auf die Typisierung von Fenstern und entdeckt ungeahnte Freiheiten zwischen den Zeilen der Normen. Joachim Geils und Reinhard Doubrawas Parabel vom assyrischen Kaiser und seinem Architekten lehrt uns, dass das Arbeitsverhältnis von Bauherr und Baumeister einem Typus entspricht, der sich als archaischer und beständiger als jeder Bautyp erweist.
Wir sympathisierten mit Candide, einem eher antiheroischen Leitbild, dessen Abenteuer von einem gewissen Monsieur le Docteur Ralph, alias Voltaire, aufgeschrieben und vor genau 250 Jahren in Genf gedruckt wurden.Voltaires Candide durchstreift das 18. Jahrhundert. Unter den Einwirkungen von Intoleranz, Fanatismus und Gewalt verläuft seine Initiationsreise nicht ohne herbe Schicksalsschläge und bittere Enttäuschungen. Gemeinsam mit Ihnen möchten wir von nun Streifzüge durch unsere Zeit unternehemen dabei nach dem Wissen der Architektur Ausschau halten.
Das Wissen der Architektur liegt nicht sorgasam abgeheftet in Archiven zum Abruf bereit, sondern steckt in Entwurfswerkzeugen, Arbeitsabläufen, Wohnräumen oder Fensterdetails. Als forschende Architekten und Wissensarchäologen ihrer eigenen Disziplin entdecken die Autorinnen und Autoren dieser dritten Ausgabe von Candide nicht nur Fundorte des Wissens, sondern beschreiben jeweils die für architektonische Belange unauflösliche Verbindung von Wissen und Erfindung, von Erkenntnisgewisnn und Projekt.
In der vorliegenden sowie auch in der folgenden Ausgabe von Candide finden Sie eine Auswahl herausragender Beiträge zur Tagung „Constructing Knowledge“, die im November 2009 auf Einladung des Lehr- und Forschungsgebiets Architekturtheorie an der RWTH Aachen stattfand. Das Programm des zweitägigen Ereignisses bot Raum für ein breites Spektrum von Untersuchungen zum Wissen der Architektur. Mehr als einhundert Wissenschaftler und praktizierende Architekten sandten uns dazu ihre Vorschläge, von denen sechzehn für die Tagungsvorträge ausgewählt wurden. Weitere zwanzig Einsendungen wurden in Form von Postern präsentiert. Nach einer Überarbeitungsphase liegen nun die ersten Vorträge in gedruckter Form vor. Weitere Beiträge werden in einem digitalen Tagungsband zugänglich sein. Für uns, die Herausgeber von Candide, war die Tagung auch ein erster Anlass, das für die Zeitschrift zentrale Peer-Review-Verfahren zu erproben.