Mittelschichtwohnen im Nachkriegsitalien: Auf der Suche nach Hausgeschichten

Ein Forschungsprojekt zu 23 nach dem Zweiten Weltkrieg errichteten Wohn­bauten für die Mittelschicht von Mailand, Rom und Turin eröffnet ein neues Kapitel der Geschichte des italienischen Massenwohnungsbaus. Entscheidend ist das Vorgehen der über 20 am Projekt beteiligten Architekten und Histo­riker, die anhand eines umfangreichen Korpus neuer schriftlicher und mündli­cher Quellen die Mikrogeschichte von Alltagsbauten zu einem experimentel­len Vergleich weiterentwickeln. Diese „serielle Geschichte“ erzählt nicht nur die Hausbiographien aus der Perspektive der beteiligten Akteure, die diese Gebäude teilweise über Jahrzehnte geprägt haben. Sie legt auch die vielfälti­gen Querbeziehungen der institutionellen Vernetzung und territorialen Ein­bettung offen und wirft so einen neuen Blick auf die urbanen Wachstumspro­zesse des italienischen Wirtschafswunders. Im vorliegenden Beitrag erörtern zwei der Projektleiter, Gaia Caramellino und Filippo de Pieri, ihre Methode anhand ausgewählter Beispiele und präsentieren zum Schluß drei offene Forschungsfragen.

Ossifikation und Plastizierung. Die Darstellung einer Sicherheitsikonografie in japanischen Lagerhäusern mit Lehmwänden

Dieser Aufsatz untersucht, aufbauend auf der begleitenden Konstruktions­forschung, die komplexe Struktur der Risikowahrnehmung in dem obsoleten Gebäudetyp des japanischen Lagerhauses. Dabei werden die materiellen und kulturellen Assoziationen dieses historischen Gebäudetyps einer Neubewer­tung unterzogen. Dies geschieht mittels einer erfinderischen typologischen Analyse, welche die stofflichen Eigenschaften der Plastizierung und Ossifi­kation betrachtet, die dem ungebrannten Lehm innewohnen, der beim Bau verwendet wird . Es ist dieses neue Verständnis über den Wissensaustausch in der japanischen Sicherheitskultur, dass dem Entwurf für eine Selbstlager- und Notevakuierungseinrichtung für das japanische Kyoto zugrunde gelegt wird. Der Entwurf plädiert für einen zeitgemäßen Einsatz von ungebranntem Lehm, mit dem Ziel, eine umweltbewusste und kulturell relevante Form des Schutzes für die Stadt zu schaffen.

Wohnen als diskursive Leerstelle.

Nach dem Debakel um seine Beteiligung an der Berliner Großsiedlung Märkisches Viertel lebt Oswald Mathias Ungers ab 1967 als Hochschullehrer zurückgezogen an der Cornell University. Dort lernt er die Rahmenbedingungen der Wohnungsbau- und Städtebaupraxis in den USA kennen und reflektiert zugleich die veränderten Ansprüche an Architektur angesichts des fortschreitenden Umbaus des Wohlfahrtstaats auf beiden Seiten des Atlantiks. Wie André Bideau in diesem Beitrag zeigt, lässt die „amerikanische“ Recherche Ungers’ späteren Diskurs um die Autonomie der Architektur noch kaum erahnen; der Wohnungsbau bleibt weitaus länger ein zentrales Thema für Ungers als bislang dargestellt. Doch mit der Diskreditierung des Massenwohnungsbaus gewinnt die Ausdifferenzierung der postmodernen Stadtgesellschaft zunehmend an konzeptioneller Relevanz, so auch die „persönliche Initiative der Bürger“, die Ungers mit der Urban Villa zu aktivieren sucht. Den Wendepunkt markieren hier die Berliner Sommerakademien, mit denen sich der Architekt ab 1977 zu repositionieren versucht. Im Licht veränderter sozio-ökonomischer Prämissen entwirft Ungers anhand der Wohnungsfrage eine neue Beziehung zwischen Identität und Urbanität.

Authentische Architektur.

Im vorliegenden Gespräch geht Andres Lepik dem Verständnis von Wissen in der Arbeit von Architektin Anna Heringer auf den Grund. Gerade weil es Heringer in ihren Planungs- und Bauprozessen um die soziale Verantwortung des Architekten geht, ist die Frage, wie und ob über ihre hauptsächlich in Lehmbauweise errichteten Einzelprojekte übertragbare Modelle und Strategien entwickelt werden können. Heringer plädiert sowohl für Studierende im industrialisierten Westen als auch für die in Entwicklungsländern am Bau tätigen Arbeiter für ein Wissen, das auf praktischer Erfahrung beruht. Das Gespräch fand im Frühjahr 2012 an der Harvard Graduate School of Design statt, an der sowohl Heringer als auch Lepik 2011/12 ein Loeb- Fellowship innehatten.

Der Wohnungsbau-Prototyp des Institute for Architecture and Urban Studies.

Marcus Garvey Park Village ist ein sozialer Wohnungsbau, den das Institute for Architecture and Urban Studies zwischen 1973 und 1976 im New Yorker Stadtteil Brooklyn gebaut hat. Es handelte sich um die Umsetzung eines Prototyps für niedriggeschossigen, hoch verdichteten Wohnungsbau, der von der staatlichen Urban Development Corporation in Auftrag gegeben worden war. Kooperationspartner war das Museum of Modern Art, wo das Projekt in einer eigenen Ausstellung unter dem Titel „Another Chance for Housing“ gezeigt wurde. Der Wohnungsbau war das einzige realisierte Bauprojekt des Institute, das von 1967 bis 1985 in New York Bestand hatte und sich vor allem als Zentrum der Architekturdebatten einen Namen machte. Kim Förster nimmt das Bau- und Ausstellungsprojekt zum Anlass, um das Verhältnis von Kulturgeschehen, Architekturwelt und Öffentlichkeitsarbeit zu untersuchen. Die von Förster geführten Interviews lassen die Protagonisten dieser einzigartigen Architektur- und Kulturproduktion, u.a. Kenneth Frampton und Peter Eisenman, zu Wort kommen. Der Zusammenschnitt der Gespräche als oral history erlaubt Erkenntnisse über die jeweiligen Interessen der Kooperationspartner und Einblicke in das Selbstverständnis des Institute als Architekturbüro, bevor es sich als Bildungs- und Kultureinrichtung behaupten konnte.

Compliant Architecture oder die fügsame Architektur.

“Compliant Architecture” ist ein Studienprojekt, das drei Forschungsfelder in ihrem Zusammenhang untersucht: (1.) die Entwicklung der Bauvorschriften und Bauordnungen von ihren Anfängen bis heute; (2.) die Grenzen, die diese seit jeher für Architekten aufzeigen, aber auch (3.) das Potenzial, das sie dem Entwerfer bieten. Im folgenden Artikel gibt Liam Ross einen Überblick über den Verlauf und die Ergebnisse dieses Projekts, das er seit 2009 an der Universität Edinburgh leitet. Ross kehrt die übliche Kritik von Architekten an Bauvorschriften um, indem er die These aufstellt, dass die fachliche Herausforderung dieser Regeln nicht in den Grenzen besteht, die sie dem Entwerfer setzen, sondern in den Freiheiten, die sie ihm bieten. Ross plädiert für eine architektonische Praxis, die mit den Restriktionen arbeitet, um das jeder Bautätigkeit innewohnende Risiko zu „inszenieren“, statt es zu leugnen. Schließlich ist Subjektivität nur möglich, wenn man auch Risiken eingeht. Der Autor begründet dies anhand seiner detaillierten Untersuchung der britischen Norm 8213-1: 2004 zu Fenstern, Türen und Dachfenstern, einschließlich Diagrammstudien und spekulativen Fensterentwürfen. Darüber hinaus loten mehrere studentische Arbeiten, die von Ross betreut wurden, das von weiteren Normen gebotene gestalterische Potenzial aus.

Hiltonculuk und die Folgen.

Die Verbreitung des Internationalen Stils in der Türkei der 1950er Jahre wird oft als unumgängliche Folge der sogenannten Amerikanisierung der Moderne interpretiert. Ein näherer Blick auf die Bedingungen von Berufspraxis und Wissensproduktion in der Architektur zeigt dagegen, dass die Aneignung der Moderne nicht unproblematisch war. Mit Bezug auf die wiederholte Imitation von Istanbuls Hilton Hotel, einem der ersten modernistischen Bauten der Türkei, mokierte sich der Kritiker Şevki Vanlı damals mit dem Begriff „Hiltonculuk“ (Hiltonismus) über eine architektonische Ideologie, die unkritisch von der Mehrheit der Architekten übernommen wurde. Die Autorin spricht dagegen von einem „Alltagsverstand des Modernismus“, um im Affirmativen die gemeinsamen Werte türkischer Architekten zu beschreiben. Bezugnehmend auf Antonio Gramscis Intellektuellenkritik und Karl Mannheims Wissenssoziologie, stellt Kaçel Architekten nicht als kreative, autonome Personen dar, sondern als Intellektuelle, deren Praktiken in Bezug zu den sozialen Beziehungen, in die sie eingebettet sind, analysiert werden müssen.

Modell und Ereignis.

Ein Architektur-Wettbewerb ist auch ein Forum, das als Instrument der Debatte über die Funktion eines Vergabeinstruments hinaus wirkt und vor allem in kontroversen Fällen zum Ort einer grundsätzlicheren Auseinandersetzung werden kann. Die Teilnahme am fragwürdigen Wettbewerb von 2007 zur Wiedererrichtung der Berliner Stadtschlosses ist exemplarisch: Wie lassen sich richtige Antworten auf eine falsch gestellte Frage finden? Anhand von ausgewählten Positionen aus Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts erläutert Wilfried Kuehn Ideen von Original und Kopie in Hinblick auf Kuehn Malvezzis preisgekrönten Wettbewerbsbeitrag.

Die sozialistische Perspektive der XV. Triennale di Milano.

Für die Architekturgeschichtsschreibung ist klar, dass der Name Aldo Rossi für die Überwindung der Nachkriegsmoderne steht, da durch seine Theorie einer Architettura Razionale die Aufmerksamkeit wieder auf tradierte, die Zeiten überdauernde Architekturformen und -typen gelenkt wurde. Doch dies ist nur eine Seite von Rossis Theorie. Als Marxist sah sich Rossi auch einem historischen Modell verpflichtet, welches Architektur als Produkt von spezifisch gesellschaftlichen Widersprüchen erklärt. In seinen theoretischen Schriften artikulieren sich deshalb verschiedene, zuweilen schwer vereinbare Einflüsse. 1973, im Jahr der Triennale di Milano, steht er deutlich unter dem Einfluss von Hans Schmidt und der Idee der sozialistischen Stadt, was sein kaum wahrgenommener Einleitungstext zum Ausstellungskatalog offenbart. Der vorliegende Aufsatz untersucht dieses bisher wenig erforschte Verhältnis anhand der Einleitung von Rossi sowie anhand der Schriften Hans Schmidts, die ein neues Licht auf Rossis Typusbegriff werfen.